Sergej Stepanowitsch Tschachotin

Zwischen Revolution, Diktatur und Demokratie, Flucht, Zerstörung, Hoffnung und Utopie: Sergej Stepanowitsch Tschachotin, geboren 1883 in Konstantinopel, verstorben 1973 in Moskau, durchlebte eine rastlose Odyssee durch das Europa des 20. Jahrhunderts. Heute ist der Name des Mikrobiologen nahezu vergessen, dabei kann der Erfinder des Strahlenskalpells als ein Wegbereiter moderner Krebsforschung und Gentechnik gelten. In seinem Buch „Le viol des foules par la propagande politique“ („Die Vergewaltigung der Massen”) übertrug er 1939 Pawlows Theorie der Reflexe auf die Propagandamethoden der Nationalsozialisten. Noch immer gilt es als ein soziologisches Standardwerk zur Massenpropaganda.

Doch die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik war für Tschachotin unausweichlich mit persönlicher Verantwortung verbunden. Als Kämpfer und schließlich Bekämpfter der Russischen Revolution, als Sozialist und Chefpropagandist der Kampagne „Dreipfeil gegen Hakenkreuz“, als Anti-Atomkraft-Aktivist und Visionär einer internationalen Gemeinschaft trieben ihn die politischen Systeme seiner Zeit immer wieder zu Flucht, Neuanfang und in den Untergrund. Zwischen Wissenschaft und Politik, zwischen Berufung und Familie hin- und hergerissen, schrieb sich Sergejs Leben unauslöschbar in die Biografien seiner fünf Frauen und acht Söhne ein.


WENJA TSCHACHOTIN

Ein fast 90-jähriger Mann mit ausdrucksvollen Gesichtszügen lauert in dem Garten, der ihn seit 20 Jahren ernährt. Bunte Fähnchen stecken in einer von Maulwürfen durchpflügten Wiese. Kaum zuckt einer der Wimpel, springt Wenja flink auf und sticht mit zwei Spaten zu. Außer ihm wissen nur wenige, wie man Maulwürfe lebendig fängt. 1917 wurde er als „Oktabrjonok“ während der Wirren der Oktoberrevolution in St. Petersburg geboren. Im Alter von 16 Jahren ließ sein Vater Wenja und dessen Mutter im faschistischen Deutschland zurück. Als Naturwissenschaftler trat er dennoch in die Fußstapfen seines Vaters. Die Doktorarbeit in Chemie musste Wenja jedoch auf Druck der Nationalsozialisten abbrechen.


EUGEN TSCHACHOTIN

Seit über 30 Jahren bewahrt Eugen die unzähligen Dokumente, Tagebücher und das tausende Negative zählende Fotoarchiv Sergejs auf seinem Dachboden in Paris, während die Urne mit der Asche des Vaters auf seinem Wohnzimmerschrank steht. Seine Versuche, den letzten Willen des Vaters zu erfüllen und ihn auf der Insel Korsika beizusetzen, blieben erfolglos. Eugen wurde 1921 in Berlin geboren. Als Sergej 1933 vor den Nationalsozialisten flüchten musste, nahm er den „Lieblingssohn“ und passionierten Geigenspieler mit nach Frankreich ins Exil. Hunger, Armut, Obdachlosigkeit und die spätere, gemeinsame Internierung kennzeichneten ihr Pariser Leben.


ANDREJ TSCHACHOTIN

Als umtriebiger Unternehmensberater und Manager ist Andrej um die Welt gereist, bevor der ehemalige Algerien-Kämpfer und patriotische Le Pen-Anhänger seine deutlich jüngere Liebe in Kasachstan fand. Die Ehe mit Swetlana ist seine dritte und gemeinsam mit ihr ließ er sich in Frankreich nieder. Andrej wurde 1939 in Paris geboren und wuchs auf Grund der materiellen Not Sergejs zeitweise bei Pflegeeltern und in Kinderheimen auf. Schon während seiner Jugend kam es zu heftigen Zerwürfnissen und schließlich zum Bruch mit seinem Vater. Andrej ist der politische Gegenspieler Sergejs.


PETJA TSCHACHOTIN

Anfang der 1990er Jahre initiierte Petja anlässlich des Jugoslawienkriegs mit der Unterstützung von Papst Johannes Paul II. und dem Patriarchen von Russland die über das Fernsehen weltweit ausgestrahlte Ikonenmission „Heilige Anastasia” im Weltall. Sein Engagement für Weltfrieden und Völkerverständigung sieht Petja heute als wichtiges Erbe Sergejs an. Als Pastellmaler pendelt er zwischen Italien und Russland. 1943 in Paris geboren, musste Petja 1958 seinem Vater nach dessen Rehabilitierung in die Sowjetunion folgen. Als „Nesthäkchen“ hat er in Moskau die längste Zeit gemeinsam mit Sergej verbracht.


Boris Hars-Tschachotin

Boris hat seinen Urgroßvater nie persönlich kennen gelernt. 1973, im Jahr von Sergejs Tod, geboren, ist er vor allem mit dessen Abenteuergeschichten aufgewachsen, die ihm sein Großvater Wenja immer erzählte. Sergejs Kampf mit den korsischen Räubern, seine Rettung aus den Erdbebentrümmern in Messina, das geheime Versteck seines Revolvers während der Labordurchsuchung durch die Nazis ... Als Erwachsener will Boris mehr über seinen so schillernd beschriebenen Urgroßvater erfahren und interviewt erstmals Wenja, Eugen, Andrej und Petja. Dabei entfaltet sich ein Kosmos überwältigender Bilder, heftiger Emotionen und subjektiver Wahrheiten.


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