Kommentar

„Früher erzählte mein Großvater Wenja immer faszinierende Geschichten von Sergej. Heute weiß ich, dass in unserer Familie nicht nur zahllose Geschichten erzählt wurden, sondern auch zahllose Geschichten unangetastet blieben. Stummes Gepäck, das ungefragt und oftmals ungeöffnet von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Ab einem bestimmten Alter hatte ich das Gefühl, fremdes Gepäck bei mir zu haben, dessen Inhalt rumorte, mir aber verschlossen blieb.

Als Erwachsener wollte ich endlich mehr über meinen Urgroßvater erfahren. Mich faszinierte sein kämpferischer und utopischer Geist. Sergejs unbeugsame Haltung schien in meiner Gegenwart, einer Zeit lauwarmer Visionen und politischer Orientierungslosigkeit, eine Ausnahme geworden zu sein. Mein Urgroßvater hatte an eine bessere Zukunft geglaubt und sich leidenschaftlich für sie eingesetzt. Sein Sohn Eugen kommentierte diese Lebensphilosophie einmal mit dem lapidaren Satz: Er will immer die Welt retten, aber was wird aus uns?!

Als ich mit meiner Spurensuche begann, hatte ich keine Vorstellung davon, was sie auslösen würde, wie heftig Erinnerung auch nach Jahrzehnten sein kann und welche starken Gefühle dabei freigesetzt werden. Geborgenheit und Zuneigung steht direkt neben Enttäuschung und Zorn, Stolz und Liebe neben Verlassensein, Hass und Distanz. Und alles zusammen ergibt ein Geflecht, eine Familie, ein Jahrhundert.“


Biografie

Boris Hars-Tschachotin wurde 1973 in Tübingen geboren und lebt seit 1993 in Berlin. Während seines Studiums der Kunstgeschichte, Philosophie, Theaterwissenschaften und Kulturellen Kommunikation an der Humboldt-Universität arbeitete er in verschiedenen Berliner Programmkinos. 1998 begann er für Studio Babelsberg in der Pre-Production internationaler Kinofilme zu arbeiten. Später war er als Location Scout im Auftrag von Paramount Pictures, Hallmark Entertainment und für Regisseure wie Jean-Jaques Annaud, Simon Moore, István Szabó, Richard Donner, Andreas Dresen, Wim Wenders, Volker Schlöndorff und Tom Cruise tätig.

Sein erster Kurzspielfilm „Lurch“ (2000) lief auf über 50 internationalen Filmfestivals und wurde vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Seine Filme wurden von Fernsehsendern wie Sundance, Arte, NBC Universal, Yle Teema und ZDF erworben. Neben weiteren Filmprojekten folgten Kunstinstallationen, die im ZKM Karlsruhe, Museum für Fotografie der Staatlichen Museen zu Berlin, BAM New York, Martin-Gropius-Bau Berlin oder in der Kunsthalle Kiel zu sehen waren. 2006 entstand die große interaktive Installation „Makroskop“ (www.makroskop.org). Boris Hars-Tschachotin war Stipendiat der FAZIT-Stiftung, der Gerda Henkel Stiftung und der Radial Stiftung. 2009/10 ist er Fellow am Getty Research Institute in Los Angeles. „Sergej in der Urne“ ist Boris Hars-Tschachotins erster abendfüllender Dokumentarfilm.


Filmografie

SERGEJ IN DER URNE, Dokumentarfilm, Autor, Regisseur, Produzent, Co-Cutter (2009)
CALLING BILL, Kurzspielfilm, Autor, Regisseur und Produzent (2007)
MUTTERSEELENALLEIN, Spielfilm, Co-Produzent, Regie Robert Schuster (2004)
LURCH, Kurzspielfilm, Autor, Regisseur und Produzent (2000)


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